Stu­die: Indus­tri­el­le Resi­li­enz und stra­te­gi­sche Sou­ve­rä­ni­tät Deutschlands

Michael Astor von Prognos AG

Die deut­sche Indus­trie hat in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten stark von der inter­na­tio­na­len Ver­net­zung der Märk­te und der glo­ba­len Arbeits­tei­lung pro­fi­tiert. Doch spä­tes­tens seit der COVID-19-Pan­de­mie, dem rus­si­schen Angriff auf die Ukrai­ne und dem wach­sen­den geo­po­li­ti­schen Wett­be­werb zwi­schen den USA und Chi­na sind die Risi­ken die­ser Abhän­gig­kei­ten unüber­seh­bar gewor­den. Lie­fer­eng­päs­se, Pro­duk­ti­ons­stopps und stei­gen­de Roh­stoff­prei­se haben deut­lich gemacht, wie ver­wund­bar wich­ti­ge Wert­schöp­fungs­ket­ten sind. Vor die­sem Hin­ter­grund hat das Netz­werk Zukunft der Indus­trie e. V. im Früh­jahr 2024 die Pro­g­nos AG mit einer umfas­sen­den Stu­die beauf­tragt, um kri­ti­sche Abhän­gig­kei­ten der deut­schen Indus­trie zu ana­ly­sie­ren und Hand­lungs­emp­feh­lun­gen zu ent­wi­ckeln. Dabei stan­den vier zen­tra­le Indus­trie­be­rei­che im Fokus: Automobil/Elektromobilität, Tech­no­lo­gien für die Ener­gie­wen­de, Mikro­elek­tro­nik und die Ver­tei­di­gungs­in­dus­trie.

Zen­tra­le Erkennt­nis­se der Studie

Die Stu­die ver­deut­licht, dass Euro­pa in bestimm­ten Roh­stoff­be­rei­chen stark kon­zen­trier­te Bezugs­quel­len hat – mit einem hohen Maß an Import­ab­hän­gig­keit, ins­be­son­de­re gegen­über Staa­ten, deren geo­po­li­ti­sche Rol­le zuneh­mend Ein­fluss auf wirt­schaft­li­che Pro­zes­se nimmt. Bei ein­zel­nen Roh­stof­fen wie Sel­te­nen Erden, Gra­phit oder Anoden­ma­te­ria­li­en für Bat­te­rien liegt der euro­päi­sche Import­an­teil aus Chi­na bei über 90 Pro­zent. Auch in der Ver­ar­bei­tung und indus­tri­el­len Wei­ter­ver­wen­dung die­ser Mate­ria­li­en bestehen Kom­pe­tenz- und Kapa­zi­täts­lü­cken in Europa.

Ein ähn­li­ches Bild ergibt sich bei Mikro­chips: Obwohl Euro­pa rund 20 Pro­zent der welt­weit her­ge­stell­ten Chips nach­fragt, liegt der Pro­duk­ti­ons­an­teil inner­halb Euro­pas ledig­lich bei etwa 10 Pro­zent. Beson­ders bei Spei­cher­chips und hoch­ent­wi­ckel­ten Halb­lei­tern, die bei­spiels­wei­se für Anwen­dun­gen im Bereich Künst­li­che Intel­li­genz benö­tigt wer­den, bestehen enge tech­no­lo­gi­sche Abhängigkeiten.

Dar­über hin­aus ver­deut­licht die Stu­die, dass nicht nur Roh­stof­fe selbst, son­dern auch bestimm­te Fer­ti­gungs­kom­pe­ten­zen sowie gan­ze Abschnit­te der indus­tri­el­len Wert­schöp­fungs­ket­te außer­halb Euro­pas kon­zen­triert sind. So haben Staa­ten wie Chi­na oder auch Russ­land und Kasach­stan stra­te­gisch bedeu­ten­de Posi­tio­nen etwa bei der Lie­fe­rung von Titan­me­tal­len oder der Errich­tung indus­tri­el­ler Groß­an­la­gen übernommen.

Betrof­fen sind ins­be­son­de­re Bran­chen mit hoher wirt­schaft­li­cher Rele­vanz für Euro­pas Zukunft – etwa die Auto­mo­bil­in­dus­trie oder Tech­no­lo­gien für die Ener­gie­wen­de. Gleich­zei­tig fehlt es bis­lang auf natio­na­ler und euro­päi­scher Ebe­ne an einer abge­stimm­ten Gesamt­stra­te­gie, um sol­chen Abhän­gig­kei­ten ent­lang der gesam­ten Wert­schöp­fungs­ket­te struk­tu­riert entgegenzuwirken.

Emp­feh­lun­gen zur Stär­kung der indus­tri­el­len Resilienz

Vor dem Hin­ter­grund die­ser Ana­ly­se for­mu­liert die Stu­die ver­schie­de­ne Emp­feh­lun­gen, wie Resi­li­enz, Sou­ve­rä­ni­tät und Zukunfts­fä­hig­keit der euro­päi­schen Indus­trie gestärkt wer­den können.

An ers­ter Stel­le steht der Schutz des frei­en und fai­ren Han­dels, gepaart mit einer kla­ren wett­be­werbs­po­li­ti­schen Stra­te­gie gegen mono­pol­ar­ti­ge Struk­tu­ren. Die EU-Kom­mis­si­on und die Indus­trie­na­tio­nen Euro­pas soll­ten ver­stärkt gemein­sam agie­ren und stra­te­gi­sche Ant­wor­ten auf die Her­aus­for­de­run­gen durch glo­ba­le Wett­be­wer­ber wie etwa die Volks­re­pu­blik Chi­na entwickeln.

Dar­über hin­aus wird ein inno­va­ti­ves, zukunfts­ge­rich­te­tes Modell der Indus­trie­pro­duk­ti­on ange­regt – mit dem Ziel, eigen­stän­di­ge Fer­ti­gungs­tech­no­lo­gien in Euro­pa zu stär­ken, sowie nach­hal­ti­ge Pro­duk­ti­ons­ver­fah­ren und resi­li­en­te Lie­fer­ket­ten zu för­dern. Wirt­schaft und Staat soll­ten dabei enger zusam­men­ar­bei­ten. Auch Fri­end- und Res­ho­ring-Stra­te­gien, also die Rück­ver­la­ge­rung oder geziel­te Neu­an­sied­lung von Tei­len der Pro­duk­ti­on in befreun­de­te oder euro­päi­sche Staa­ten, wer­den als mög­li­che Instru­men­te benannt.

Die Stu­die weist zudem dar­auf hin, dass wich­ti­ge gesetz­ge­be­ri­sche Instru­men­te wie der „Cri­ti­cal Raw Mate­ri­als Act“ und der „Net-Zero Indus­try Act“ bereits vor­han­den sind. Nun sei es ent­schei­dend, die­se rasch mit Leben zu fül­len und kon­kret umzusetzen.

Eine wei­te­re zen­tra­le Emp­feh­lung betrifft die Roh­stoff­si­che­rung. Euro­pa und ins­be­son­de­re die Bun­des­re­gie­rung soll­ten den Zugang zu kri­ti­schen Roh­stof­fen durch stra­te­gi­sche Part­ner­schaf­ten und den Auf­bau neu­er För­der­ka­pa­zi­tä­ten – unter Berück­sich­ti­gung von öko­lo­gi­schen und sozia­len Stan­dards (ESG) – aktiv vorantreiben.

Wich­tig sei dabei glei­cher­ma­ßen die Trans­pa­renz ent­lang der gesam­ten indus­tri­el­len Lie­fer­ket­ten zu erhö­hen und das Risi­ko­ma­nage­ment auf Unter­neh­mens- wie auf Staats­ebe­ne zu verbessern.

Nicht zuletzt hebt die Stu­die bestehen­de Poten­zia­le der Kreis­lauf­wirt­schaft her­vor, die es gilt kon­se­quen­ter zu nut­zen. Recy­cling, neue Pro­duk­ti­ons­pro­zes­se und geziel­te Fach­kräf­te­ent­wick­lung könn­ten dazu bei­tra­gen, mit­tel­fris­tig unab­hän­gi­ger von Pri­mär­roh­stof­fen zu werden.

Studie Resilienz - Handlungsempfehlungen

Fazit: Es ist Zeit für einen indus­trie­po­li­ti­schen Kurswechsel

Die Unter­su­chung zeigt deut­lich auf, in wel­chen Berei­chen Euro­pas Indus­trie struk­tu­rel­le Her­aus­for­de­run­gen zu bewäl­ti­gen hat – und wie poli­ti­sche wie wirt­schaft­li­che Akteu­re gemein­sam dar­auf reagie­ren kön­nen. Die Resi­li­enz indus­tri­el­ler Wert­schöp­fung in Euro­pa hängt zuneh­mend davon ab, wie gezielt bestehen­de Abhän­gig­kei­ten redu­ziert und gleich­zei­tig neue Koope­ra­ti­ons- und Inno­va­ti­ons­po­ten­zia­le erschlos­sen werden.

Eine enge Ver­zah­nung von Indus­trie­po­li­tik, tech­no­lo­gi­scher Ent­wick­lung und stra­te­gi­scher Roh­stoff­si­che­rung wird künf­tig eine zen­tra­le Rol­le spie­len, um die Wett­be­werbs­fä­hig­keit und Sou­ve­rä­ni­tät Euro­pas im glo­ba­len Kon­text zu sichern.

Nur durch ein abge­stimm­tes Zusam­men­spiel und stra­te­gi­schem Dia­log von Poli­tik, Indus­trie, Wis­sen­schaft und Gesell­schaft lässt sich die Grund­la­ge für sozia­len Wohl­stand und wirt­schaft­li­che Sta­bi­li­tät in einem zuneh­mend unsi­che­ren glo­ba­len Umfeld sichern.